Pro-palästinensische Szene: Am Tiefpunkt
Am Jahrestag des 7. Oktober zeigt sich: Die Pali-Szene hat sich in eine Sackgasse manövriert. Offener Jubel über Hamas-Verbrechen ist nun Konsens.
E s gibt sehr viele Gründe, um für Palästina auf die Straße zu gehen. Doch es gibt einen entscheidenden Grund, der das allzu oft verunmöglicht: der radikale Teil der pro-palästinensischen Bewegung. Ausgerechnet am Jahrestag des Überfalls auf Israel durch die Hamas und weiterer militanter palästinensischer Gruppen hat sich dieser Teil der Szene vollends blamiert. Ihr Auftreten ist anti-emanzipatorisch, empathiefrei, würdelos.
Innerhalb dieses aktivistischen Spektrums wird man sich durch die Ereignisse rund um die geplante Kundgebung am Abend des 7. Oktober am Berliner Alexanderplatz wie immer bestätigt fühlen. Erst ein Verbot durch den Repressionsstaat, dann ein gewaltvoller Einsatz und Kessel durch die Polizei gegen viele hundert Aktivist:innen, die trotzdem gekommen waren. Nur: Die Basis, damit ihr Ruf nach Empörung und Solidarität eine Antwort finden kann, haben sie selbst zerstört.
Schon am Vormittag des Jahrestages jenes Angriffes, bei dem vor zwei Jahren 1.200 Menschen, in der Mehrzahl Zivilist:innen, abgeschlachtet und 250 entführt wurden, präsentierte sich die Szene von ihrer unmenschlichsten Seite, indem sie sich mit den Angreifern gemein machte. „Glory to the fighters“ stand da während einer Straßenblockade in Friedrichshain auf einem riesigen Banner. Ruhm also für die islamistischen Kämpfer der Hamas und ihren Blutrausch.
Dass das ganz genau so gemeint war, zeigte der Aufruf für die Kundgebung am Abend, die von der Versammlungsbehörde – man muss sagen, leider zu Recht – verboten wurde. Gehuldigt wurde darin dem „heldenhaften Ausbruch aus dem Gefängnis“, der das „zionistische Regime“ erschütterte. Und weiter: „Am 7. Oktober zeigte der palästinensische Widerstand der Welt, dass es möglich ist, die ‚allmächtige‘ zionistische Entität zu besiegen. Die Menschen in Gaza haben nicht um ihre Freiheit gebettelt, sie haben sie erobert.“
Der Israel-Palästina-Konflikt wird vor allem in linken Kreisen kontrovers diskutiert. Auch in der taz existieren dazu teils grundverschiedene Positionen. In diesem Schwerpunkt finden Sie alle Kommentare und Debattenbeiträge zum Thema „Nahost“.
Hamas-Fans bekennen sich
Lange haben sich die pro-palästinensischen Aktivist:innen dagegen gewehrt, als „Hamas-Fans“ und „Israel-Hasser“ verunglimpft zu werden, wie es etwa die Springer-Medien systematisch tun, um jede Kritik an einer verbrecherischen Kriegsführung Israels abzuwehren. Doch mit diesem Aufruf hat sich die Szene bewusst auf diese Seite gestellt. Und noch mehr: Mit der Zuschreibung der „allmächtigen“ Juden bedienen sie sich ungeniert antisemitischer Narrative. Die Anführungszeichen mögen eine letzte Schamgrenze sein; wert ist sie nichts.
In den zwei Jahren des Aufschreis gegen die Zustände in Gaza, im Nichtgehört- und auch im Verprügeltwerden, hat sich bei zu vielen der Konsens durchgesetzt: Gegen Israel – oder: die Juden – ist alles erlaubt. Während man sich hier über Polizeigewalt beschwert, wird den von der Hamas Ermordeten, Vergewaltigten und Entführten die Unschuld abgesprochen. Die Billigung des 7. Oktober mag einer Trotzhaltung entspringen, zu rechtfertigen ist sie niemals.
Gern würde man sagen, es ist nur eine Provokation weniger Radikaler, die sich behaupten wollen angesichts einer kippenden gesellschaftlichen Stimmung in Deutschland, die viel zu spät ihre Kritik an Israels Massenmord und der systematischen Zerstörung aller Lebensgrundlagen in Gaza entdeckt hat. Doch die Verbreitung des Aufrufs zeigt: Die relevanten Player der Szene, die seit zwei Jahren ununterbrochen auf der Straße ist, stehen dahinter; es sind die relevanten Gruppen und Accounts, die ihn geteilt haben – und zwar ohne jede wahrnehmbare Kritik aus der eigenen Bubble, auch nicht von ihren reichweitenstarken Influencern und Journalist:innen.
Die Aufrufe zu der Kundgebung kamen nicht aus der islamistischen Ecke, sondern von Akteuren mit einem linken Selbstverständnis: Gruppen, die sich als antiimperialistisch begreifen, solche, die Attribute wie „feministisch“, „antifaschistisch“ oder „anarchistisch“ im Namen tragen. Selbsternannte Linke, die sich der dazugehörigen Werte wie Humanismus und Gerechtigkeit entledigt haben. Und auch der Logik: Denn das, was da als Sieg gefeiert wird, hat nicht nur über viele Israelis unermessliches Leid gebracht, sondern in der Folge vermutlich mehr als 100.000 Menschen in Gaza das Leben gekostet und das aller anderen zur Hölle gemacht.
Die Unfähigkeit zwischen dem Einsatz für Palästina und den Verbrechen, die in diesem Namen begangen werden, zu trennen, macht es nahezu ausgeschlossen, dass eine pro-palästinensische Bewegung in Deutschland Erfolge erzielt. 100.000 Menschen, die noch vor zwei Wochen in Berlin ohne Hamas-Begeisterung auf die Straße gegangen sind, werden damit ihren Gegnern zum Fraß vorgeworfen. Wer dabei am Ende auch verliert: die Menschen in Gaza.
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